Ein SMS-Bot für Gerichtstermine und eine Whistleblower-Plattform für Pflegepersonal – der „Code for America Summit“ ist eine der größten Konferenzen für Civic Tech. Drei Tage lang treffen sich mehr als 1.200 Menschen, die sich mit dem Thema beschäftigen, wie Technik unser Leben vereinfacht und der Gesellschaft nutzen kann – abseits von privatwirtschaftlichem Wettbewerbszwang und Gewinnstreben. Was abstrakt und utopisch klingt, wird hier greifbar.
Sie wollen gemeinsam die Welt verbessern und überlassen Technik nicht privatwirtschaftlichen Unternehmen: Die „Code for America“-Community traf sich in Oakland und ich war auch dabei. Die Teilnehmer engagieren sich in ihrer Freizeit für eine digitale Gesellschaft, sind Entwicklerinnen und IT-Spezialistinnen oder arbeiten in Verwaltungen und Behörden. Ihr gemeinsames Ziel: Den Alltag einfacher machen und Probleme – wie soziale Ungleichheit, Rassismus und Diskriminierung – lösen.
Was zuerst utopisch klingt, wird plötzlich sehr greifbar, wenn Rednerinnen wie Sahbra N‘Haraven ihre ganz persönliche Geschichte erzählen. Sie selbst wurde obdachlos, nachdem sie ihre Rechnungen nicht rechtzeitig zahlen konnte. Auf der Straße wurde ihr klar, wie wenig Rechte Obdachlose haben und wie oft sie von der Polizei diskriminiert werden. Dort gelte nämlich nicht selten: Obdachlos ist gleich kriminell. N‘Haraven wollte Statistiken sehen – die gab es aber nicht. Jetzt setzt sie sich in ihrer Stadt bei Code for Ashville in North Carolina dafür ein, dass Kriminalitätsdaten offen zugänglich sind – und überhaupt erst einmal nachvollziehbar erhoben werden. Uns gibt sie mit auf den Weg: „Sprecht mit den Betroffenen. Sie kennen die Probleme und haben häufig sogar Ideen, wie man sie lösen könnte.“
In Tulsa in Oklahoma warten nach Angaben des Projekts CourtBot rund 25% der Menschen im Gefängnis darauf, dass ihre Fälle angehört werden. Das kostet Steuerzahler bis zu 25.000 Dollar pro Tag. Dabei sind die Beschuldigten keine schweren Straftäter: Oft haben sie ihre Gerichtstermine verpasst oder Bußgelder nicht gezahlt. Statt diese Menschen im Gefängnis sitzen zu lassen, setzt CourtBot auf Prävention. Betroffene sollen rechtzeitig per SMS an alle wichtigen Termine erinnert werden, um sie selbst und auch das Strafrechtssystem insgesamt zu entlasten. Somit ist CourtBot zugänglich für die Menschen, die es am dringendsten brauchen und die sich vielleicht kein Smartphone mit Internetverbindung leisten können.
Ein anderes großes Problem in den USA ist, dass ein Drittel der Bevölkerung einen Eintrag im Strafregister hat, der immer wieder bei routinemäßigen Überprüfungen auftauche, kritisiert das Projekt „Clear My Record“. Das bedeutet, dass es für fast 100 Millionen Menschen schwierig ist, einen neuen Job, einen Kredit oder eine Wohnung zu bekommen. In Kalifornien können sich Menschen deshalb beim Projekt Clear My Record anmelden, das automatisch Einträge im Strafregister nach den gesetzlich festgelegten Zeiten löscht.
Menschen möchten sich mitteilen, manchmal wissen sie nur nicht wo und wie. Zum Beispiel Pflegekräfte, die direkt am Krankenbett arbeiten und genau wissen, was ihre Patienten brauchen. Das Projekt Flo’s Whistle ist eine Plattform, auf der seit Mai ein Jahr lang Pflegekräfte anonym melden können, wo es nicht so gut läuft. Die Berichte werden dann auf einer US-Karte angezeigt. Vorbild für dieses Projekt ist die Krankenschwester Florence Nightingale, deren statistische Forschungen im Krimkrieg Menschenleben rettete. Genau das will auch Flo‘s Whistle tun.
Der Staat kann eine Menge Geld sparen, wenn in einer Stadt entwickelte Software für eine andere Stadt nur noch angepasst und nicht komplett neu geschrieben werden muss. Die staatliche Plattform code.gov will Software, die mit Steuergeld entwickelt wurde, zusammentragen und als freie Software zur Verfügung stellen. So will code.gov verhindern, dass Steuergeld umsonst ausgegeben wird, indem Software unnötigerweise doppelt entwickelt wird. Aktuell verzeichnet die Plattform mehr als 4.000 Projekte.
Lange Zeit haben sich Entwicklerinnen kaum für Jobs in der öffentlichen Verwaltung interessiert. Und die öffentliche Verwaltung hat sich zu wenig für Entwicklerinnen interessiert. Das ändert sich in den USA gerade grundlegend: In vielen Städten werden größere Teams zusammengestellt, die die digitale Entwicklung in der öffentlichen Verwaltung vorantreiben sollen. Entwickler*innen sollen nicht länger in eigenen Abteilungen sitzen, sondern direkt in den Teams mitarbeiten. „Als ich gesagt habe, dass ich in der Verwaltung arbeiten will, haben mich meine Freunde entgeistert angeschaut. Als würde ich ein Mitglied der Mafia werden“, erzählt ein Teilnehmer. „Aber genau das ist der Punkt: Wenn ich da nicht hingehe, wer soll es denn sonst machen?“
Eine der entschlossensten Kämpferinnen der US-amerikanischen Civic-Tech-Bewegung ist die Gründerin von „Code for America“, Jennifer Pahlka. Sie eröffnet die Veranstaltung mit der eindringlichen Botschaft: „Es geht um unsere Demokratie!“ Pahlka ist es gelungen, ein Netzwerk zu schaffen, in der sich Menschen in 69 US-amerikanischen Städten für Civic Tech einsetzen. Sie arbeiten in lokalen Gruppen, sogenannten Brigades und sind national vernetzt: Materialien wie ein Handbuch oder eine Software-Sammlung werden genauso geteilt wie konkretes Wissen im neuen Discourse-Forum, das es seit dem Code for America Summit 2018 gibt und sich schon jetzt sehen lassen kann. Ein Verhaltenskodex ist selbstverständlich, nicht nur auf Veranstaltungen, sondern auch in Chats. Um dabei mit Fehlern umgehen zu können, geht „Code for America“ damit offen um. Verstöße beim Summit haben sie veröffentlicht. Natürlich nicht, um Menschen bloßzustellen, sondern um Missstände anzuerkennen und daraus zu lernen.
Jetzt sind wir dran. Wenn ihr Lust bekommen habt euch in Deutschland zu engagieren, schaut auf codefor.de vorbei und kommt zum Open Knowledge Lab, dem deutschen Äquivalent der Bridgades in eurer Nähe. Denn: Es geht um die Menschen und unsere Gesellschaft. Wie es auf dem Sticker von „Code for America“ steht: „No one is coming. It‘s up to us.“